Ich bin mir nicht mehr ganz sicher, wann und wo ich zuerst auf “Das Lied der Wächter” gestoßen bin. Ich vermute aber, daß es im Urlaub in Freiburg war, der ziemlich zeitgleich zum Erscheinen des ersten Bands stattfand. Es hat dann noch rund fünf Jahre gedauert, bis ich angefangen habe, die Trilogie zu lesen - auf das Ende werde ich verzichten.
Das Szenario ist spannend: 16 Jahre nach einem vermeintlichen Atomunfall gilt ein Teil des Schwarzwalds als verseucht und unbewohnbar. Das Gebiet ist großräumig abgesperrt, militärisch bewacht und das Betreten verboten. Felix erfährt im Alter von 16 Jahren, daß seine Eltern nicht seine Eltern, sondern Onkel und Tante sind und macht sich auf die Suche, seine leiblichen Eltern zu finden, die seit dem Unfall in der abgesperrten Zone verschollen sind.
“Das Lied der Wächter” stammt vom Freiburger Autor Thomas Erle und man merkt auf jeder Seite, daß der Autor seine Heimat kennt und liebt und bereits einige heimatkundliche Schriften verfasst hat. Die Landschaft, die Felix auf seiner Reise durchstreift, ist detailliert und lebendig geschildert und es wäre wahrscheinlich möglich, anhand des Buches zumindest einen Teil der Reise fast schrittgenau nachzuwandern.
Der erste Band “Das Erwachen” beginnt mit einem Rückblick: Matrin und Nadja sind auf ihrem ersten Wanderausflug nach der Geburt von Baby Felix, den Sie in der Obhut von Nadjas Schwester gelassen haben. Während sie unterwegs sind, ereignen sich seltsame Dinge und der Leser weiß erstmal nicht, ob sie überleben und was mit ihnen passiert. Leider ist der Prolog gleichzeitig auch der fesselnste Teil der Geschichte, denn ab dem Punkt, an dem Felix übernimmt, geht es leider stetig bergab.
Keine Ahnung, ob und wie viele 16-jährige Thomas Erle kennt, aber Felix sorgt mit seinem zeitweise planlosen Handeln im Verlauf seiner Reise für dauerhaftes Kopfschütteln beim Leser. Wahrscheinlich soll dies die Verlorenheit des Stadtkindes in der Wildnis darstellen oder unterstreichen, wirkt aber an vielen Stellen einfach zu planlos und naiv.
Als Beispiel sei eine Szene nach dem Aufbruch vom Lager der Händler in “Das Lied der Wächter: Der Gesang” genannt: nachdem man als Leser zigfach “und was ist mit dem Hund?” gedacht hat, merkt auch Felix mitten im Abseilen an der Wand hängend doch noch, daß er nicht alleine ist, sondern einen Vierbeiner als Gefährten hat.
Im selben Moment hörte er von oben ein lautes Bellen. Siedend heiß fiel ihm Leo ein … Er musste zurück [Das Lied der Wächter: Der Gesang, Seite 309]
Den Hund vielleicht zuerst abseilen - Fehlanzeige. Darüber überhaupt nachdenken - Fehlanzeige. Sich mitten in der Wand hängend wundern, warum der Hund oben nervös wird - Volltreffer. Sicherlich, ein durchschnittlicher 16-jähriger Teenager ist im Normalfall kein McGuyver und es ist auch gut und passend, daß er sich manches erst hart erarbeiten muß. Die absolute Lern- und Denkresitenz, mit der Felix durch den Schwarzwald stolpert wird aber mit zunehmender Seitenzahl immer mehr zum Ärgernis.
Dazu kommt, daß zumindest in den ersten beiden Bänden so gut wie keine Grauschattierung bei den Nebencharakteren zu finden ist, in der Welt gibt es nur schwarz oder weiß. Entweder sind die Personen, auf die Felix trifft herzensgut oder abgrundtief böse, auf Überraschungen, Abweichungen oder rätselhafte Charaktere hofft man vergebens.
Daß ich mir jemals eine Disneyfizierung eines Stoffs nach aktuellem Strickmuster wünschen würde, hätte ich bis zum Lesen der beiden Bücher für schlicht unmöglich gehalten. Was hier an Rollenbildern beschrieben wird, lässt mich mehr als irritiert zurück. Egal, wie sich die Umwelt und das damit verbundene Leben ändert, ist es hoffentlich mehr als unrealistisch, daß damit eine Rückkehr von Mann und Frau in die Rollen der Steinzeit verbunden ist. Genau dies geschieht hier aber Mitten in der Zone: die tapferen Männer arbeiten draußen auf Feld, Wald und Wiese und durchstreifen die Landschaft, während die Frauen es als Erfüllung ihres Lebens ansehen, sich um Haus, Heim und Herd zu kümmern. Hatten wir schon mal und muß nicht wieder sein. Dann doch lieber die nächste übermotivierte Frau, die den ganzen Herren erklärt, wo’s langgeht.
“Das Liede der Wächter” basiert auf einer interessanten Idee und es ist schön, daß endlich auch mal im beschaulichen Ländle was Spannendes passiert, statt immer nur in den USA. Leider reicht die Hintergrundgeschichte aber nicht aus, um die unglaubwürdige Welt oder den denkbefreiten Protagonisten zu kompensieren. Daß viele Puzzleteile der Geschichte sich immer wieder per Zufall zusammenfügen, macht das Lesen auch nicht spannender.